Direkt zum Inhalt

Wie sich der Digitalstandort Europa weiterentwickeln muss

Helmut Fallmann

Erstellt am 19. November 2019

Digitalstandort Europa

Die neue Kommission unter der designierten „President elect“ Ursula von der Leyen setzt die Digital-Agenda ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Nach der neuen Ressortgliederung werden in den nächsten fünf Jahren dafür vorrangig zwei Kommissionen zuständig sein: „Europe fit for the Digital Age“ und „Internal Market“. Von der Leyen setzt bei der Digitalstrategie größtenteils auf Kontinuität bei den Fokusthemen, so wie sie im Juni 2018 mit dem Programm „Digitales Europa“ und im Einklang mit dem nächsten langfristigen EU-Haushalt 2021-2027 mit Investitionen in Höhe von 9,2 Mrd. Euro akkordiert worden sind: Hochleistungsrechner, Künstliche Intelligenz, Cybersicherheit und Vertrauen, Digitale Kompetenzen und Gewährleistung einer breiten Nutzung der digitalen Technik in der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft.

 

Künstliche Intelligenz

Mit dem Durchbruch von Internet of Things rückt die künstliche Intelligenz in den Mittelpunkt. Längst schon findet sie überall Einsatz, sei es von unseren mobilen Endgeräten über Assistenzsysteme für autonome Fahrzeuge bis hin zu smarten Fabriken. Da KI den Technologie-Wettlauf im nächsten Jahrzehnt mitentscheiden wird, muss Europa jetzt seine Kräfte bündeln, um echte Innovationen bei neuralen Netzwerken, Deep Learning oder Natural Language Processing anzustoßen. Das europäische Netzwerk der Technischen Universitäten ist mit seinen Lehr- und Forschungsprogrammen auf diesen nächsten Schritt der digitalen Technologie-Innovation ganz gut vorbereitet. Wir müssen jetzt nur in Verschränkung mit schon bestehenden Industrie-Clustern und Technologie-Hubs unsere Anstrengungen weiter verdichten, damit wir Mitte der Zwanziger Jahre über Technologiehoheit bei AI verfügen und unsere Digitalwirtschaft zu weltweit respektierten Lieferanten von KI ausbauen können. 

 

Um diese KI-Fokussierung umzusetzen, fehlen uns allerdings etliche Fachkräfte. Derzeit fehlen in der EU rund 350.000 Experten in den Bereichen Data Science und Big Data Analyse, um die wissenschaftliche Forschung bei künstlicher Intelligenz oder Cyber Security vorantreiben zu können. Wir brauchen ein modifiziertes Bildungssystem, das vom Kindergarten bis zum Universitätsabschluss für die Bewältigung des digitalen Wandels ausbildet. Es muss uns gelingen, schon früh eine Begeisterung für MINT-Fächer zu wecken und digitale Literalität als Basisqualifikation neben Schreiben, Lesen und Rechnen zu etablieren. Allein schon wegen der kurzen Innovationszyklen in dieser wettbewerbsintensiven Branche sind laufende Schulungen am Arbeitsplatz zur Nachjustierung des Kenntnisstandes über aktuelle Netz- und Technologieentwicklungen unentbehrlich für eine digitale Gesellschaft. Das „Digital Europe“-Programm will ein robustes Investitionsvolumen von 700 Millionen Euro für die Aneignung fortgeschrittener digitaler Fertigkeiten über Förderung von Trainings für kleinere Unternehmen sowie für IT-Professionals und Jungunternehmer bereitstellen.

 

Echte Wertschätzung für Unternehmensgründungen gehört gefördert

Um in der Innovations-Arena eine Rolle zu spielen, ist es unablässig, dass sich Ideen für intelligente Produkte und Dienstleistungen über ein funktionierendes Investoren-System ihren Weg in die Märkte bahnen können. Start-ups tragen zum Wachstum der Wirtschaft bei und sorgen für Beschäftigung. Nur aus einem richtig konzipierten Start-up-Ökosystem können europäische Digital-Champions entstehen, die mit der Geschwindigkeit des globalen Technologiewandels Schritt halten können.

 

In dieser Hinsicht war Europa in den letzten Jahren ziemlich erfolgreich. Zwischen 2012 und 2017 ist das Tech-Investment in Europa von 3,6 Mrd. Euro auf 17 Milliarden angewachsen. In den drei großen europäischen Start-up-Metropolen London, Paris und Berlin wurden 2017 in diesem Segment 7,1 Mrd. Euro lukriert. Trotzdem hat Europa Aufholbedarf. Von den 2018 weltweit existierenden 266 „Unicorns“ (in Privatbesitz befindliche Start-up-Unternehmen des Tech-Sektors mit einem Unternehmenswert von mehr als eine Mrd. Dollar) kamen nur 41 aus Europa, darunter etwa der Musik-Streaming-Dienst Spotify oder der Retailer Zalando. Wenn wir allerdings echte Wertschöpfung bei industrieller Digitalisierung anstreben und das aufgebaute Know-how bei uns behalten wollen, dürfen wir der oft im Silicon Valley praktizierten Start-up-Mentalität einer schnellen Monetarisierung mittels Verkauf von Patenten an große US-Unternehmen nicht folgen.

 

Die Forcierung einer Kultur, in der Unternehmen als Motoren von Innovation und gesellschaftlichem Fortschritt wahrgenommen werden, ist für mich daher eine Schlüsselfrage für den wirtschaftlichen Erfolg der europäischen Digitalökonomie. Jungen Menschen muss die Attraktivität des Unternehmertums und die dafür erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Verlauf des Bildungszyklus konkret vermittelt werden.

 

Wir brauchen heute also mehr als nur kreative Start-ups, wir brauchen Unternehmen, die sich ihre Anfangsbegeisterung erhalten und ihre Ideen laufend weiterentwickeln. Wenn es uns gelingt, das Unternehmertum und das Abenteuer Wirtschaft mit seinen Entfaltungsmöglichkeiten so zu bewerben, dass junge Menschen ihre Selbstverwirklichung mit einem eigenen Betrieb zu suchen, dann müssen wir uns um die gesellschaftliche Wertschätzung und ein innovationsfreundliches Klima, in dem Spitzenleistungen entstehen können, nicht mehr sorgen.